Wer sucht, der findet...

Samstag, 30. Januar 2016

Kapitel 5; Schmerz verlangt gespürt zu werden

PAN
 
Er saß in dem Zimmer, das er sich mit einem anderen Jungen teilen musste und starrte die Wand an. Das Bett, auf dem er saß und dessen Matratze ihm schon seit Wochen Rückenschmerzen bereitete war von der Körpern von hunderten von anderen Kindern bereits abgenutzt worden. Trostlos war auch der kleine Raum mit seinen schmutzigen Wänden. Pan schluckte. Er kam sich klein vor, einsam.




Die Jugendlichen an diesem Ort waren nicht wie alle anderen in ihrem Alter. Er sehnte sich fast die Zeit im Jugendgefängnis zurück. Dort hatten die Wärter wenigstens darauf geachtet, dass sich die Insassen nicht gegenseitig die Haut vom Körper rissen. Nicht, dass Pan den Schikanen der anderen nicht standhalten konnte. Aber empfand es wirklich als Energieverschwendung, seinem Zimmernachbar jedes Mal aufs neue seine dummen Ideen aus dem Körper rauszuprügeln zu müssen. Er hasste es sogar. Aber was blieb ihm denn anderes übrig?

Die Zimmertür schlug mit einem lauten Krachen auf und brachte die Zimmerwände fast zum erzittern. Im Türrahmen stand sein Zimmernachbar und grinste spöttisch. Seine hagere, zusammengekrümmte Gestalt verlieh ihm etwas Geheztes. Pan nannte ihn heimlich Giftzwerg. "Was willst du?", fragte er den Giftzwerg und verlieh seiner Stimme so viel Verachtung wie nur möglich.

"Die Direktorin sucht dich.", sagte sein Zimmernachbar, dessen Stimme inzwischen von Lachern geschüttelt wurde. Pan hielt die Luft an. Dass die Direktorin mit ihm sprechen wollte verhieß nichts Gutes. Deswegen war der Giftzwerg so schadenfroh. Pan hatte etwas ausgefressen und er würde dafür bestraft werden. Fieberhaft versuchte er sich an seine letzten Vergehen zu erinnern, doch ihm viel auf die Schnelle nichts ein. Er hatte immer sorgfältig darauf geachtet, die Grenzen nicht komplett zu übertreten. Langsam stand er auf. Der Giftzwerg wich zur Seite und machte Pan Platz, seine Augen feixten. Pan wandte seinen Blick auf den Flur und hörte hinter sich die Tür zuschlagen. Dann machte er sich zum Büro der Direktorin auf.

Die dunkle, alte Holztür schien ihn bereits zu erwarten. Groß ragte sie vor ihm bis an die Decke hinauf. Pan holte tief Luft, konnte sein Herz wie einen hilflosen kleinen Vogel in seiner Brust flattern spüren, und klopfte kräftig an der Tür. Ein gedämpftes "Herein!" ertönte vom Inneren des Büros und Pan öffnete die Holztür. Eine hübsche, ältere Frau saß hinter einem riesigen, schwarzen Tisch und sah Pan erwartungsvoll us ihrem freundlichen Gesicht an. Er schloss die Tür hinter sich und näherte sich dem Holztisch. Dann verschränkte er seine Arme hinter dem Rücken und setzte eine ausdruckslose Miene auf.

"Sie wollten mich sprechen?", fragte Pan beherrscht höflich. Die Direktorin der Jugendeinrichtung war eine der erstaunlichsten Personen, die Pan in seinem Leben jemals begegnet sind. Sie konnte sich innerhalb einer Sekunde von einem gut gelauntem Menschen zu einer schreienden Furie verwandeln.

"Ja, in der Tat Pan, ich habe eine Sache mit dir zu Besprechen."
Der strenge Zug um ihre Lippen verhärtete sich und Pans Herz rutschte in die Hose. Das wars. Sie würden ihn rausschmeißen. Selbst wenn diese Einrichtung eine Bruchbude war, hatte er dennoch ein Dach über dem Kopf, etwas warmes zu essen und die Chance auf Bildung. Ohne das alles wäre er für den Rest seines Lebens verloren.

"Wir, also der Jugendvorstand und ich haben in letzter Zeit viel über dich gesprochen.", begann sie, ihre strenge Miene blieb unverändert. "Pan..." Plötzlich wurde ihre Stimme sanfter, Pan vergaß fast seinen ausdruckslosen Gesichtsausdruck beizubehalten. "Wir machen uns Sorgen um dich. Um deine psychische Gesundheit.", sprach sie weiter. "Deshalb haben wir beschlossen, dich in eine andere Einrichtung zu schicken. In eine, die Jugendliche nach Schicksalsschlägen, wie in deinem Fall, richtig betreuen können."
Jetzt konnte sich Pan nicht mehr halten. "Sie halten mich für psychisch labil?", fragte er, seine Stimme zitterte leicht. "Nein Pan! Wir wollen dir helfen! Es geht nicht darum, was wir glauben, sondern darum, dass dir geholfen werden kann.", ihre Nasenflügel bebten. "Aber...", setzte Pan an, doch sie unterbrach ihn. "Geh deine Sachen packen, in einer halben Stunde wirst du abgeholt."

***

Kaum kam er in der neuen Einrichtung, so begann auch seine Therapie. Doch Pan war der festen Überzeugung, dass sie ihn auch diesmal nicht brechen konnten. Er Empfand die psychologische Unterstützung nicht als Hillfe, sondern als Angriff auf eine Privatsphäre, bei der die Therapeutin jedes Mal versuchte, in seiner Vergangenheit herumzuwühlen. Aber was konnte er anderes erwarten als Absturzkind?

Stunde um Stunde saß er die Zeit bei der Therapeuthin in der Jugendhilfeeinrichtung ab. Doch es erschien zwecklos, so sehr bissen die Betreuer sich die Zähne an ihm aus. Wieso konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen?

"Du musst uns nichts sagen. Du kannst für immer in dieser Depression stecken bleiben. Aber dann kann dir niemand helfen, Pan." Die junge Frau, Miriam Canavagh, die seine Therapeutin war, seufzte. "Du hast es also nicht anders gewollt..., wir müssen tatsächlich....etwas vorgreifen..."
Miriam Canavagh holte tief Luft. Dann sagte sie: "Danyel."
Pan drehte sich vor Schreck so schnell in die Richtung der Therapeuthin, dass er sich fast den Hals verrenkte.
"Was?", krächzte er. Seine Stimme war von ihrem seltenen Gebrauch brüchig und rau geworden.
"Woher kennen Sie diesen Namen?".
Er schluckte. Der Druck an seiner Brust nahm zu. Er wollte schreien.
"Wer hat Ihnen das erzählt?"
"Oh das hat man mir nicht erzählt. Das weiß ich nur durch Zufall...", sagte die Frau und legte einen Stein und ein zusammengeknülltes Stück Papier vor sich auf den Tisch. "Man hat er durch ein Fenster im ersten Stock geworfen."

Pan verließ seinen Platz am Fenster und schritt zum Tisch der Therapeuthin herüber. Er beugte sich über den zerknüllten Zettel und las die Nachricht darauf. Warum konnten sie nur so dumm sein und ihm auf diesem Wege eine Nachricht zukommen lassen? Das wäre niemals unbemerkt geblieben.

                           
***

Schweigend verließ er den Raum. Er wollte sterben. Schmerz verlangt gespürt zu werden.
Eigentlich sollte er zurück auf sein Zimmer gehen, aber das war ihm egal.
Er musste zu Danyel.
Mit schnellen Schritten ging er weiter. Und plötzlich kam ihm eine Idee. Doch wo sollte er hin, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen? Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er hatte doch so viele Gelegenheiten gehabt!

Er musste nur unbemerkt dorthin gelangen, überlegte er.
Pan stieg die Treppe hinunter und schritt entschlossen durch die geöffnete Haustür. Niemand war zu sehen. Das machte das ganze sehr viel einfacher, er hatte keine Lust seine Zeit zu verschwenden und irgendeine Ausrede erfinden zu müssen, damit er das Grundstück verlassen durfte.

Kaum viel das Schloss des Tores im Vorgarten zu, verfiel er in einen leichten Laufschritt. Ohne zu zögern stieg er an der nächste Bushaltestelle in den Bus und fuhr aus der Stadt. Doch nach einer Weile realisierte er, dass seine Bekleidung aus einer alten Jogginghose, einem schwarzen, eingelaufenen T-shirt und alten vestaubten Schuhen bestand. Wahrscheinlich sah er aus wie ein Straßenkind, das regelmäßig ohne Fahrkarte fuhr.

Pan seufzte. Gedankenverloren beobachtete er den regen Verkehr auf den Straßen. Die Fahrt dauerte nur eine knappe halbe Stunde. Kaum gingen die Türen wieder auf, rannte er auch schon hinaus und dann sah er sein Ziel: das Krankenhaus. Sein Herz pochte so laut, als wüsste es, was ihm bevorstünde.
Doch er ignorierte es und flitzte am Empfangstresen des Krankenhauses vorbei. Leer wie es war, schien ihn keiner zu bemerken. Kaum hatte er den Aufzug erreicht, drückte er ungeduldig auf den Knopf. Panisch ballte Pan seine Hände zu Fäusten und versuchte sich zu beruhigen. Die Aufzugtüren glitten auf und er wollte schon hereinstürzen, als er plötzlich bemerkte, dass schon jemand in der Kabine stand. Es war ein junger Arzt. Pan zögerte. Sollte er riskieren aufgehalten zu werden?

"Schon, gut ich beiße nicht.", sagte der junge Mann und lächelte ihm ermutigend zu. Pan kam dieser Mann wie sein persönlicher Tod vor. Er schluckte. Kalter Schweiß rann ihm den Rücken hinab. 'Nur zu, es tut nicht weh' schien ihm der Tod, in Gestalt des jungen Arztes, zu zuflüstern. Pan betrat die Kabine und sah, dass der Mann anscheinend auch auf die Dachterasse wollte, der oberste Knopf in der Reihe leuchtete bereits. Dann schlossen sich dei Türen. "Ich wollte nur mal kurz auf dem Dach eine rauchen. Das sagst du doch keinem. Das bleibt unser Geheimnis. So von Arzt zu Patient?", fragte der Mann und kicherte. Offensichtlich dachte er, Pan wäre ein Krankenhauspatient.

Pan versuchte sich den Tod mit einer Zigarette vorzustellen und musste grinsen. Er hatte seit fast zwei Jahren nicht mehr gelächelt, stellte er fest.
Der Mann verstand das als Antwort seine Frage und sprach weiter. Doch Pan hörte gar nicht zu.
"Sag mal du siehst blass aus. Alles in Ordnung mit dir?", der Arzt beäugte ihn misstrauisch.
"Wa...ja, ja alles in Ordnung."
Was sollte er auch sonst antworten?
"Hör mal, du willst auch aufs Dach?" Pan nickte. "Ich darf dich eigentlich gar nicht auf die Dachterasse lassen. Außer...außer du versprichst mir nichts Dummes anzustellen."

"Ja natürlich hab ich nichts vor. Ich will nur... mal kurz frische Luft schnappen." Der junge Arzt sah Pan prüfend ins Gesicht, und wandte seinen Blick wieder ab. Wird er Pan gehen lassen? Der Aufzug blieb ruckelnd stehen, die Türen glitten wieder auf und beide verließen die Kabine. Pan schluckte und sah sich um, offensichtlich war der Arzt der Meinung, er könne ihm vertrauen.
Was jetzt? Und dann dachte er an Danyel und der Schmerz bohrte sich erneut in seine Brust.

Inzwischen lehnte sich der junge Arzt mit dem Rücken an die Mauer der Terrasse und zündete sich seine Zigarette an. Pan stellte sich an seine Seite und blickte hinunter. Er konnte all die anderen Gebäude des Campus erblicken. Und Asphalt. Unglaublich viel, steinharter Asphalt. Der Mann neben ihm hatte wieder angefangen zu reden. "Hier haben sich schon lauter Verrückte runtergestürzt. Verrückt.", sagte er und kicherte wieder. 

"Jaah, verrückt.", bestätigte Pan. Laut klackernd fiel dem Arzt plötzlich das Feuerzeug aus der Hand.
 "Uups", sagte dieser und bückte sich danach, er kicherte wieder.

Im nächsten Moment bemerkte Pan auf einmal, dass er schon auf der Mauer stand. Er konnte sich nicht daran erinnern hinaufgestiegen zu sein. Doch das war jetzt egal. Alles war egal, solange er nur zu Danyel konnte. Danyel. Pan hatte länger gelebt als sein Bruder. Aber gleich wären sie wieder vereint. Er lächelte sanft. Dann breitete er seine Arme aus und sprang.

***

Ist das das Ende unseres jungen Helden?

Was meint ihr?

{Day}

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